Montag, 26. Juni 2017

Würzig nasser Wind vom Meer ...




2017-06-26

Fryslân, Humaldawei im Juni

1.
Die Amseln haben viel zu erzählen. Klingt wie ein helles, flötendes Tek Tek. Die Nester, die Jungen. Menschen, die stören mit ihren Eingriffen. Da muss ein Ast weg, dort ist die Hecke zu hoch. Die Schafe stehen nackt in den hohen Wiesen. Meterhoher Wiesenschachtelhalm am Rand der Wassergräben. Würzig nasser Wind vom Meer. Die Fischkutter sind zu riechen. Die erste Mahd. Kräuterlikör in der Luft. Zeit vergeht langsam. Ein Traktor. Die Nachbarin mäht den Rasen, füttert ihre Singvögel, die morgens und abends Konzerte geben. Das Einuhrläuten. Dann wird das Dorf still. Kein Glockenklang, nur noch Lerchen mit ihrem Tirili. Ich sitze da und höre.
2.
Kaffee. Toast, Butter und Orangenmarmelade. Dann hinaus, der graue Himmel beginnt auf Höhe der Baumkronen. Nieselregen. Die Schafe schmiegen sich in die Bodenfurchen. Keine Vögel am Himmel, alle sind, wo sie sein wollen. Keine Prophezeiungen aus Vogelfluglinien. Ein Kranich steht ruhig auf der Deichkrone. Überblick bis hin zum Zoutkamper Hafen und über eine große Herde Galloway Rinder.
Ein streunender Hund steht mitten auf der schmalen Straße. Die schwarze Katze sitzt auf einem Gatterpfosten. Zwei Jungs schlagen mit Stöcken um sich und richten ein Blutbad unter den Wildblumen an. Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar hängt Wäsche auf. Zigarette im linken Mundwinkel. Eine bauchige Kittelschürze. Der Mann hackt Holz. Wie ein Bild aus vergangenen Zeiten. Jetzt. Hier.
3.
Am Wasser Möwen, Brachvögel und Austernfischer. Silbermöwen und die Seemöwen mit ihren langen gebogenen Schnäbeln, grimmig blickend. Die Nordsee getaucht in ein kaltes Indigo, Schaumkronen tanzen über das Wasser. Auf der Lauwerszee kreuzen kleine Segler und Motorjachten. An den Anlegern wird geräumt, gepackt. Zu Abend gegessen. Der Wind bläst Wolken weg. Die See ruhig. Die Ebbe beginnt. Die Sonne geht langsam unter. Das Licht schimmerte über den ganzen Himmel, wie in einem Märchen. Wattvögel machen sich für die Nacht bereit, der Wind streicht sanft durch das Uferschilf. Auf dem großen Campingplatz wird es langsam leise. Lachen, Geschirrklappern, Rufe. In den Restaurants rund um den See werden Schollen aufgetischt, Kartoffeln und Gemüse. Oder Moules mit Fritten. Bitterballjes. Im Hafen liegen die Fischkutter, schaukeln leise. Als wäre die Welt heil und gut.
4.
Spülwasserfarbener Himmel. Der Regen fällt langsam. Zum Mitzählen. Rechts von der Straße Felder voller Schafe, links ein Kanal mit kleinen Booten. Ein Blick bis zur bleigrauen Himmelslinie, unterbrochen von einer Windmühle. Ein Radler fährt von Hof zu Hof und verteilt Prospekte.
Innerhalb einer einzigen Generation war nach dem Krieg der große Wandel vor sich gegangen. Ein Umbruch, langwierig, still und doch einschneidend. Solange es das Dorf gab, war die Landwirtschaft die Grundlage des Lebens, des Geldverdienens, auch des Zusammenhaltes. Seit den siebziger Jahren verschwanden endgültig die bis dahin gültigen Lebensformen, Berufe und Traditionen. Die Welt der Bauern und Landarbeiter wurde auf den Kopf gestellt. Die Geschäfte verschwanden aus den Dörfern. Der ökonomische Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft zerfiel. Arbeitsplätze gab es kaum noch. Arbeitsplätze gibt es immer noch kaum. Prospekte zu verteilen, in denen geschälte Kartoffeln angeboten werden und geputztes Gemüse, ist ein Aushilfsjob, keine Arbeit. Die Stimmen in den Dörfern werden leiser, aber die Dörfer haben ihre Geschichten und ihre Gesichter. Das Leben in Dörfern bleibt immer ein anderes als das in der Stadt. Die friesische Lehmlandschaft mit ihren struppigen Ebenen und den hohen Himmeln bleibt eine Dorflandschaft, ist Heimat. Die Regentropfen kann ich zählen. Und die Zukunft liegt nicht da, wo der meiste Krach ist, die grellsten Farben und der angesagteste Lifestyle.
            Paulus’ Erster Brief an die Korinther, Kapitel 13, Vers 12: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“
            Die Amseln haben viel zu erzählen. Die Menschen stören manchmal mit ihren schweren Gedanken und den Selbsterkenntnissen, die davor schützen sollen, erkannt zu werden.

© J. Monika Walther





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