Donnerstag, 2. März 2017

Molukken, die Niederlande, und das eigene Gesicht zeigen und aushalten.




2017-03-02


           

 Reif liegt über den Feldern. Eine feine durchsichtige Schicht. Weißer Nebel bedeckt Grachten, Schafe und Rinder. Darüber sind die Baumspitzen zu sehen. Und dann der weite Himmel. In allen Schiefertönen. Mit Querstrichen. Und hellblauen Farbklecksen. Und Wolkenbildern. Kino. Erdschafe unten, Himmelsschafe oben.
Auf den Feldern haben sich Tausende von Gänsen niedergelassen. Ringel- und Kanadagänse, Brandgänse, Blessgänse, Rotgänse, Nonnengänse, die Weißwangengänse. Kurze Schnäbel, lange Schnäbel. Grau, schwarz. Weiße Kringel. Gestreift. Beige Flügel. Klein und groß. Plump und elegant. Tausende. Und Enten. Pfeifenten. Lalala. Ihr fresst, wir pfeifen uns durch den Winter. Alles gut, so lange die Grachten und Kanäle nicht zufrieren.
 

Ab November werden die Wiesen mit einem Grastand in fünfzehn Zentimeter Höhe den Gänsen überlassen. Die Bauern finden sich als bezahlte Naturschützer ab. Verjagen hat keinen Sinn. Tausend Gänse fliegen hoch und lassen sich ein Feld weiter wieder nieder in den Grasfurchen. In manchen Gegenden werden Gänse getötet, vergast, weil sie immer mehr werden, weil die Schäden zu hoch, weil die Bauern wütend sind. Am Lauwersmeer werden sie als Gäste und Touristenattraktion behandelt.
Einen Tag später scheint die Sonne. Nein, sie leuchtet durch die hellgrauen Himmelsschleier durch. Der lehmige Ackerboden strahlt gelb, die Wiesen schimmern grüngelb. Wie gemalt liegt das flache Land. Dazu wiegt sich das Schilf an den Wasserrändern. Die Schafe und Rinderherden stehen zum Anschauen da, Schwäne singen. Ein Standbild. Am Nachmittag kommen Nässe und Nebel. Grau in grau. Fast farblos der Himmel. Am dritten Tag hüllen Nebelwolken die Schafe, die Felder ein. Nichts ist mehr zu sehen. Auch nicht die Wipfel der Ulmen. Der Himmel ist verschwunden. Bis der Wind vom Meer her weht, sich zum Sturm aufbläst und schütteimerweise Regen gegen die Fenster klatscht. Ein rosa Streifen quer durch das Himmelsgrau, dann die Nacht.
Geert Wilders wurde 1963 als Sohn eines niederländischen Vaters aus Maasbree und einer indonesisch-niederländischen Mutter aus Sukabumi (also aus Niederländisch-Indien) geboren. Ja, die Niederlande hatten Kolonien und viele Indonesier, Molukker kamen in die Niederlande. Sie wurden und werden teilweise gehasst, assimiliert, aufgenommen, fanden ihr Einkommen, fanden keine Arbeit, wurden nicht integriert, fanden eine neue Heimat. Geert Wilders Vorfahren mütterlicherseits sind keine niederländischen Niederländer. Geert Wilders scheint diesen Teil seiner Herkunft auszublenden. Make the Netherlands great again, schreit er. Was immer das bedeuten kann. Die Zeit der Kolonien ist vorbei, Indonesien unabhängig. Viel mehr Land lässt sich nicht mehr einpoldern. Mehr Wassertomaten sich auch nicht in andere Länder verkaufen.
In den Niederlanden leben knapp eine Million Muslime. Nicht zu verwechseln mit Islamisten. Sechs Prozent der Bevölkerung. Die Geschichte des Islam in den Niederlanden beginnt aber bereits im frühen 17. Jahrhundert, als die Vereinigten Niederlande einen Freihandelsvertrag mit Marokko unterschrieben – das war der erste offizielle Vertrag zwischen einem europäischen Land und einer Nation, die nicht christlich war. Im 19. Jahrhundert erlebten die Niederlande eine geringe muslimische Einwanderung aus Niederländisch-Indien. Das Wirtschaftswachstum zwischen 1960 und 1973 veranlasste die niederländische Regierung dazu, eine große Zahl von Arbeitsemigranten anzuwerben, hauptsächlich aus der Türkei und Marokko. Die Migration setzte sich danach in Form von Familienzusammenführungen und Asylanträgen von Menschen muslimischen Ländern fort. Eine Einwanderung, die also fast immer ausschließlich von niederländischen Interessen geprägt war.
Die ehemaligen Bewohner der Molukken, einer Pazifikinselgruppe zwischen den Philippinen und Australien, kämpfen seit über fünfzig Jahren um die Unabhängigkeit dieses Gebietes, das sie 1951 auf Druck der niederländischen Regierung verlassen mussten. Tausende von Molukkern hatten auf niederländischer Seite gegen ein unabhängiges Indonesien gekämpft. Nachdem die Kolonialmacht Niederlande die Republik Indonesien 1949 in die Unabhängigkeit entlassen hatte und als immer mehr föderale Staaten mehr oder minder freiwillig ihren Beitritt erklärten, riefen die Führer der Molukken am 25. April 1950 in Ambon die Unabhängigkeit ihrer "Republik der Südmolukken" (RMS) aus. Statt sich der indonesischen Regierung zu unterwerfen, verlangten die molukkischen Soldaten in der niederländischen Armee, die vor allem auf Java stationiert waren, nach Niederländisch- Neuguinea gebracht zu werden. Um die zerbrechlichen Beziehungen zu Indonesien nicht zu gefährden, zog die niederländische Regierung es vor, die molukkischen Soldaten samt ihren Familien nach Europa zu bringen - als vorübergehende Lösung, wie alle Beteiligten damals dachten. Kaum einer dieser Molukker hat seitdem die Niederlande wieder verlassen; ihre Zahl wird auf 40.000 geschätzt. Ihren Willen zur Unabhängigkeit demonstrieren Tausende Molukker jedes Jahr am Gründungstag der RMS in Den Haag. Bis heute gibt es eine Exilregierung, die von einem unabhängigen molukkischen Staat und einer Rückkehr auf ihre Inseln träumt.
Nie hätte sich die erste Generation träumen lassen, dass sie in den Niederlanden bleiben müssen. Bei ihrer Ankunft in den Fünfziger Jahren wurden sie in den Konzentrationslagern untergebracht, die die deutschen Nazis zurückgelassen hatten. Dort kleidete man sie notdürftig europäisch ein und verpflegte sie in Großküchen. Sämtliche Soldaten wurden bei ihrer Ankunft in Den Haag aus der Armee entlassen. Arbeiten sollten sie auch nicht; für ihre Integration wurde nichts getan. Erst Jahre später wurden die Lager aufgelöst, und die Molukker erhielten Wohnungen. Heute leben die meisten von ihnen in knapp siebzig Molukkergemeinden - mit eigenen Schulen, Kirchen, Infrastruktur.
Make the Netherlands great again. Ohne Muslime, ohne Indonesier. Geert Wilders müsste selber gehen, auch wenn er katholisch erzogen wurde. Nach der alten arischen Rechenmethode ist er kein Niederländer. Oder nur zu fünfzig Prozent. Oder zu siebzig? So geht es doch zu bei Faschisten.
In ihrer ganzen Geschichte waren die Niederländer immer Europäer, immer weltoffen, nicht weil sie die besseren Menschen und je wirklich liberal gewesen wären, sondern weil Handel, Verkauf, pragmatische Lösungen, die Weite der See ihr Tun und ihre Ideen bestimmt haben. Und ja, Niederländer wollen frei sein und über ihre Polder bestimmen. Die Niederländer sind so pragmatisch, dass sogar die Anhänger von Wilders wissen, dass ihre Stimme für die Partij voor de Vrijheid eine verlorene Stimme sein wird und deshalb ihre Stimme lieber den Rechtsliberalen geben. Handel und Wandel funktionieren nur, wenn man andere nicht als „Abschaum“ bezeichnet und die Grenzen offenbleiben, auch das hat der kleine Geert noch nicht begriffen. Den Spruch „Macht Deutschland wieder groß“ gibt es zum Glück nicht, denn dass der deutsche Staat so viel Land verloren hat, haben ja die Faschisten verursacht, aber stattdessen möchte ein kleiner Teil der Deutschen zurück in eine Vergangenheit, in der angeblich alles besser und sicherer war, also zurück zu den fettigen Bratwürsten um 1960, als die Frauen noch Vater oder Mann fragen mussten, ob sie bitte arbeiten gehen oder in B. sich ein Zimmer nehmen dürfen. Zurück zu einer Arbeitswelt und Zuständen, die auch mit einem faschistischen Überbau nicht mehr herzustellen sind. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns selbst great zu machen und zu überlegen, wie wir jetzt und in der Zukunft leben wollen. Also nicht Flüchtlingsheime belagern, sondern ins Rathaus gehen und fordern, dass nicht ganze Landstriche wie eine abgewirtschaftete Firma abgeschaltet werden: kein Bus, keine Ärztin, kein Laden, kein Postkasten, kein Sammeltaxi, kein Interesse der Politik an Dörfern und armen Städten. Das eigene Gesicht zeigen und aushalten.

© J. Monika Walther