Dienstag, 9. Juni 2015

Die Frage ist, ob Schafe Spiegel benutzen?




ein neuer Humaldawei-Text von J. Monika Walther:

 

Verwildertsein


mit dem Blatt Papier vor dem Mund. Also voll schweigsamer Disziplin. So geht es zu im Schreibhaus in Fryslân. Schwäbischer Rosé aus Erlenbach steht im Kühlschrank und ein Stapel Bücher liegt auf dem Tisch. Der Rasen ist gemäht, die Hecke geschnitten, auch der Busch neben der Haustür. Ein neuer Router ist angeschlossen. Der Fernseher mit dem Internet vernetzt. Die ersten Wörter können gesucht werden. Da schreien die Krähen. Wie jedes Jahr hängt ihr Nest hoch oben in den Ulmen. Bei Sturm schaukeln sie da wie in einem Ausguck zu Schiff. Und schreien, schimpfen, schützen, flattern.
Ich fahre zum besten Coop in Anjum einkaufen. Koriander, Paksoi, Limetten, chinesische Nudeln, Milch für den Kaffee morgens. Das Huhn habe ich mitgebracht. Die erste Mahd haben die Bauern erledigt. Ein herber Duft. Und auch das Scheren der Schafe. Aber anders als bei Shaun, dem englischen Schaf, hatten die friesischen Wolleträger nicht die Chance, sich in den Bus zu setzen und beim Dorffriseur zu sagen, wie ihre neue Schurmode aussehen soll. Bei Shaun, dem Schaf (eine wunderbare Serie) ließen sie sich kreuz und quer Muster und Frisuren scheren und lieferten eine große Tüte Wolle ab. Der Bauer war’s zufrieden. In Fryslân sind nun alle Schafe schneeweiß und nackt. Sehr nackt. Die Frage ist, ob Schafe Spiegel benutzen? Bei Shaun besitzen sie Handys, Lippenstifte, Bürsten, Schweißbrenner, was eben so Schafe brauchen, um eine Chance gegen und mit den Menschen zu haben, aber ich habe keinerlei Einblicke in das Leben der Schafe auf den Wiesen um Dokkum. Sie stehen und kauen oder sie liegen im Gras. Keine Ahnung von ihrem Weltbild, und ob sie sich nachts heimlich Riesenpizzen bestellen und essen, am liebsten die Oliven zuerst. Wurf mit Klaue in hohem Bogen ins Maul.
Nein, Shaun lebt nicht im Schreibhaus, aber er zeigt sich ab an, winkt durchs Fenster, die Krähen schreien und ich suche Wörter zusammen. Mein drittes Hörspiel war „Fluchtlinien“, ein Kriegspanorama und Traumentwurf; jetzt versuche ich die Wege, die Linien meiner Familie aus Galizien, Schlesien und Preußen zu rekonstruieren. Nach Leipzig, Berlin, Hamburg und weiter. Die Fluchtlinien und Erfolge der Familie. Das ist mühselig und anstrengend, weil ich nur Puzzlestücke habe, aber kein Bild im Ganzen. Die eigenen Erinnerungen sind meist die der anderen und ich erinnere, wie ich leben will. Ich sehe ja auch, was ich weiß. Was ich nicht weiß, sehe ich nicht. Es gibt wenig Dokumente, Fotos in abnehmender Zahl seit der Jahrhundertwende bis 1940. Und erzählte Erinnerungen, die nur teilweise wahr sind. Wenige Schnappschüsse in Worten, die stimmen.



Wenn ich die blau gestrichene Milchkanne, die an einem Ast vor Schreibhaus baumelt, ansehe, weiß ich Geschichten: wie ich als Kind in Friedrichshafen nachmittags einen Liter Milch bei Fräulein Übele holte. Dem Fräulein war das Fräulein wichtig. Sie und ihre Schwester betrieben einen kleinen Lebensmittelladen: Reis, Nudeln, Zucker, Mehl in Schubladen. Die Butter wurde von einem großen Klotz abgeschnitten. Emmentaler gab es in dünnen Scheiben. Die Milch kam aus der Kanne vom Bauern, wie Bier hochgepumpt. Viele Düfte in dem winzigen Kellerladen. Vom Schwarzwälder Schinken und Schokoladenblöcken. Zu Rommelbachers wurde ich für die feineren Dinge des Lebens geschickt: Zwei Scheiben gekochten Schinken, drei Pfirsiche. Zum Bäcker für Teegebäck. Heute weiß ich nicht mehr, was das war. Vielleicht Sandtaler. Nein. Abends dann zu einem anderen Bäcker für das halbe Roggenbrot. Aber das Milchholen barg Gefahren. Auf dem Hinweg zum See hinunter war es keine Kunst, das Münzgeld in der Kanne über dem Kopf und im Kreis zu schwenken, aber zurück konnte es passieren, dass Bubi oder sonst ein Junge einem die Kanne entriss, um zu zeigen, wie gut er die Kanne mit der Milch kreisen lassen konnte. Was nicht garantiert war oder aus Absicht wurde so abgestoppt, dass die Milch zur Straßenpfütze wurde. Also schlich ich Umwege und über den Hafenbahnhof zurück, über die Gleise, denn meine Mutter hatte kein Verständnis für solche Unglücke. Als diese zerbeulte Kanne ausrangiert und weggeworfen wurde, nahm ich sie mit nach Münster und strich sie blau an. Milch holen konnte 1968 kein Kind mehr, die letzten kleinen Läden schlossen; offene Milch war unhygienisch. Bakterien, Schmutz. Keine Butter im Block mehr, keine Schubladen mit Reis und Nudeln, Mehl und Zucker. Alles musste abgepackt sein. Dafür können wir heute Antibiotika wie Würfelzucker lutschen und sie wirken nicht mehr. Multiresistente Keime sind die Schlagzeilen. Und Läden werden in den nächsten Jahren noch mindestens fünfzigtausend in den Städten geschlossen, weil wir online kaufen. Offene Milch gibt es heute nicht einmal mehr bei den Bauern.



Das Blatt Papier vor dem Mund: Ich erzähle und schreibe, um meine Geheimnisse zu bewahren oder sie anderen auf die Seele zu legen, denen in meinen Geschichten und Gedichten.
Lebenszimmer

Kein Menschenalter
lebe ich hier
sechs Birken wuchsen
ein Apfelbaum
zwei Pflaumenbäume
zählbar die Amseln kennen mich

Was in mir denkt ist ohne Heimat
Wer fragt nach dem Ort
Wenn Fluchten und Mauern
Die Wege versperren
Die eigenen Dielen verbrannt
Die Pässe beschlagnahmt sind

Eingeschlossen im Fliehen
Koffer packen
Fluchttasche an der Tür
Acht geben
Blicke senken
Am Zug nicht winken

Mein halbes Alter
lebe ich hier
nicht in Leipzig,
nicht in Hamburg,
nicht da und nicht dort.
Berge See Sand Wald
Immer Sehnsucht nach -

Ein halbes Alter
in den nassen Wiesen
gewachsen im Traum -
Zuhause im Drosteland
Zwischen den Blicken
Zwischen Berg und See
Zuhause dazwischen –
Die Amseln kennen mich.
(Aus „Abrisse im Viertel – Gedichte 2010 – 2015)

© J. Monika Walther