Samstag, 18. April 2015

Das Kino der rosaroten Gefühle, Plattfische und Schweinebacke in Gelee



Wolkenschafe und Osterlämmer



Pünktlich zum Frühjahrsbeginn staksen die neugeborenen Lämmer über die Wiesen, liegen fotogen neben ihren noch in dicker Winterwolle verpackten Müttern. Die Farben haben gewechselt, später als in Westfalen: Aus dem gefrorenen Blaugrau am Himmel und über den Feldern ist ein Schimmern geworden. Hellgrün, hellblau. Die lehmige Erde ockerfarben, nicht mehr schwarz. Osterglocken und Narzissen blühen an den Straßenrändern und in den Gärten. Weiße und gelbe Sternanemonen wachsen in den Gräben. Das Wasser der Grachten und Flüsse fließt nicht mehr braun und schwerfällig, sondern mit Wellenschlag und Himmelsbildern. Schwäne, Gänse und Enten sind wieder da, zu Hunderten besetzen sie die saftigsten Wiesen. Die Rasen vor den Häusern werden gemäht, Bäume beschnitten.
Die ersten Fischbuden machen ihre Klappen auf, stellen Tische und Stühle hin. Die Fähnchen flattern bunt. In der Aalräucherei im Zoutkamper Hafen gibt es frische Krabben und Schollen, frisch getrocknete Schaars, Aale, ein großer Butt liegt im Eis und Klieschen. Keine Filets. Die Fische werden an ihren Gräten gegessen, mit Butter und Zitrone beträufelt.

 
 
Hollands Plattfische sind mehr als platte Fische: Seezungen, Flundern, Schollen, Rotzungen, Klieschen, Hundszungen, Butt; da gibt es noch eine Welt zwischen Tradition und Moderne. Hollands Baumkurren-Kutter mit ihren hoch aufragenden Bäumen, mit den scharf geschnittenen Rümpfen, vorne höher als hinten, sehen aus, als wollten sie den Himmel stürmen. Wenn es um den Plattfisch geht, gehören die niederländischen Baumkurrenfischer inzwischen zu den Umweltschützern der Meere. Obwohl die meisten der 570 Arten (eingeteilt in elf Familien) Plattfische von Norwegen bis Portugal verbreitet sind, fischt die niederländische Fangflotte hauptsächlich in der Nordsee: Doggerbank und Deutsche Bucht. Die Auktionen sind in Ijmuiden, Scheveningen, Den Helder zu besuchen, die größten in Urk. Bieter gibt es viele und gutes Geld wird verdient mit den Kisten voller platter geeister Fische. Verarbeitet werden zu See und an Land die Plattfische sehr geschickt und einfallsreich, in Urk von singenden Fischern, denn fast alle sind im Kirchenchor.
            Die größten Krabbenauktionen der Niederlande finden an der Lauwerszee statt. Lauwersoog ist der Heimathafen vieler Fangschiffe, auch aus Urk, Scheveningen, Ijmuiden. Emden, Cuxhaven. Der Plattfischfang wird meist per LKW zu den Auktionen weitertransportiert. Seit der Absperrung der Lauwerszee 1969 verloren die Fischauktionen in Zoutkamp und bei den Dokkumer Nieuwe Zijlen von einem Tag zum anderen ihre Wichtigkeit und es dauerte viele Jahre, bis sich wieder Geschäfte und Tourismus entwickelten: Kleine Werften, Bootsanleger, Restaurants, Räuchereien.

 

Im Frühjahr sind die Wolkendecken aufgerissen und das Himmelskino Fryslân läuft von morgens bis in die Dunkelheit: breite Wolkenberge, Wolkentürme, verschobene Perspektiven, in die Ewigkeit gleitende Wolkenschafe, hüpfende Weißlämmchen. Alles vor blauer Farbe, abends dann das Kino der rosaroten und blauroten Gefühle. Pazifik. Morgens dahinsegelnde Wolkenschiffe, die immer mächtiger werden, ganze Flotten füllen den Himmel. Ich schaue gerne zu, an der Lauwerszee, in den Häfen, dann fahre ich zurück in den Humaldawei, schließe die Haustür auf, gehe hinein und stehe vor diesen Bildern: Eine Fotografie aus Leipzig von 1947, Trümmer. So habe ich meine Geburtsstadt kennengelernt. Ruinen, Granateinschläge in den schwarzen Häuserwänden, aufgeschichtete Backsteine am Straßenrand. Daneben hängt ein Bild aus Ostberlin von 1952. Alles ist grau und dunkel, ein Junge hüpft auf der hohen Bordsteinkante, ein einziges Auto steht am Ende der Straße, ein Mädchen mit Zöpfen und einer Milchkanne läuft in einen Kellereingang. So war das, als ich sieben Jahre alt war. Milch wurde mit der Kanne geholt, die Nudeln, Reis, Mehl, Zucker lagerten in Schubladen und wurden abgefüllt, die Butter von einem Block abgeschnitten. Es gab eine Käsesorte. Die Leberwurst war dunkelgrau. So war das. Die letzte dunkelgraue Leberwurst habe ich in Wustrow, während eines Stipendiums im Künstlerdorf Schreyahn, gekauft. Ein Jahr war ich dort und schrieb und schrieb und kaufte einmal die Woche diese Leberwurst. Zur Erinnerung. Und einen Brocken Schweinebacke in Gelee. Meine Kindheit schmeckte danach und nach runzeligen kleinen Äpfeln. Und dann nach Mostbirnen und geräuchertem Speck. Wässrige Graupensuppen hasse ich bis heute. Graupensuppen, Linsensuppen, dann folgten die Erbsensuppen. Ende der Fünfziger Jahre gab es eine Knackwurst zu den Suppen. Oder eine Speckschwarte, in schmale Streifen geschnitten.

© J. Monika Walther