Sonntag, 9. November 2014

J. Monika Walther: Nächstes Jahr in Jerusalem, und ein federloser Sommer





Nächstes Jahr in Jerusalem – der Satz, wenn er in der Verwandtschaft bei Besuchen und Festen ausgesprochen wurde, war immer in jeder Hinsicht ein vergeblicher Wunsch: In Erinnerung an eine vergangene Welt, an eine Familie, die es nicht mehr gab und als Ausdruck von ratloser Sehnsucht, denn niemand war je in Jerusalem gewesen, gefeiert wurde in Leipzig, in Berlin und Hamburg, die Erinnerungen galten Schlesien, Galizien, Preußen, Deutschland und Reisen in westliche Länder, aber nicht einem fremden Flecken irgendwo am Rand von Europa, in der Wüste. Jenseits vom eigenen Leben und Überleben, denn emigriert wurde nach England, Kanada, in die USA und die Niederlande, nach Burma und Frankreich, in die Schweiz. Preußen. Deutsche. Berliner. Leipziger. Die beiden Hamburger Onkels bauten Schiffe für andere, sie selbst wollten nicht weg aus Deutschland. Niemand wollte weg. Schon gar nicht nach Osten. Lieber nach Rotterdam oder Great Britain, in die neue Welt. Mit der Sehnsucht im Herzen nach dem Leben der Großeltern und Urgroßeltern, aber alle wussten: Diese Zeiten waren vorbei: Es ging anderswo auf der Welt weiter. 



Foto: ©Horst-Dieter Radke
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Nächstes Jahr in Jerusalem. Das ist alles nicht mehr wahr und alles vorbei, das war im letzten Jahrhundert. Aber immer wenn ich im Herbst in Fryslân bin und am Himmel die vielen Dreiecke der fliegenden Enten, Weißwangengänse, der Kraniche und Schwäne sehe, wie sie hin und her ziehen, sich eine Wiese suchen, dann wieder aufbrechen, sich nicht entscheiden, das Naturschutzgebiet rund um das Lauwersmeer zu verlassen, noch einen Tag warten, denke ich an diesen Satz: nächstes Jahr in Jerusalem. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist so. Nicht wegen des Bleibens oder Wegfliegen. Und wenn: in welche Richtung und wie weit? Nein, wenn sie da oben schnattern und rufen, wenn sich mehrere große Dreiecke, die miteinander geflogen sind, trennen, denke ich jedes Mal: Was rufen sie sich jetzt zu? Nächstes Jahr wieder hier in der Heimat oder nächstes Jahr ganz woanders? Jerusalem auf keinen Fall. Das Programm ist in den Köpfen der Enten nicht enthalten, bei den Älteren noch Tunesien und Marokko, aber heute kann auch schon Südfrankreich zum Überwintern ausreichen. Je weniger weit, um so schneller sind sie wieder da.
Manche der jungen jüdischen Deutschen haben es geschafft, in Deutschland als ihrer Heimat zu leben und doch jedes Jahr nach Jerusalem zu fahren, auf einen Besuch. Zur Vergewisserung. Ich fahre nach Amsterdam, in die Niederlande, nach Fryslan. Meine Vergewisserung. Meine Erinnerung in die Zukunft. Die erste Anlaufstation derer, die emigrierten: Hamburg oder irgendein niederländischer Hafen. Weiter weiter. Und wahr ist auch, dass im niederländischen Friesland kleine jüdische Kinder aus Nazideutschland überlebten, Haare gefärbt, pst, und dann liefen statt vier fünf Kinder auf den Höfen herum.

© J. Monika Walther





Foto: ©Monika Detering



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Federloser Sommer

Im Frühjahr Soldaten auf der Kuhwiese
Kinder aufgespießt in Kakteen
Fensterbänke voller Milch die Scheiben blind
Mäusedreck auf Brötchen und Fremde im Bett
Kein Hund will so leben er soll aushalten

Beim Mähen Abgründen ausweichen
In Zimmern ohne Türen ist er gefangen
Wer sind diese Kinder wer die Frauen
Schmutz auf Tischen und Feuer über den Feldern
Nie ist er Zuhause überall fremd

Im Sommer geht er Tag und Nacht
Treppen hinauf und quer über die Wege
Guten Tag sagt er und zieht seine Mütze
Wer sind diese Leute? Gehen wir nach Hause?
Ich muss ins Holz nach Kanada

Sommer ist. Er friert redet Tag und Nacht
Guten Tag sagt er fein sucht die Mütze
Er sucht Geld seine Frau die Kinder das Haus
Er geht in die Werkstatt nagelt Bretter schief
Schreiner ein guter Mann esst und trinkt

Sommer. Welcher Tag welches Jahr wo sind wir
Jetzt gehen wir nach Hause. Hier wohne ich nicht.
Missglücklich schaut er über die Kuhwiesen wohin
muss ich aufstehen muss mich anziehen viel zu spät
Wo gehe ich hin wo bleibe ich. Ich Ihr -

Draußen im Himmel im Holz schlag ich
im Schattenland zieh ich meine Mütze
guten Tag hier lebe ich mein Kaffee
mein Stuhl und Tisch. Eigene Dielen
unter Füssen und Seele. Guten Tag

(für Alfons Uhlending, der die besten Spiegeleier briet und einen wunderbaren Holzturm an unser Haus von 1898 baute, einen Turm, den das Amt für Denkmalschutz als vorbildlich lobte)

© J. Monika Walther