Montag, 14. Juli 2014

Heidi, die Schweiz, die Niederlande, der Filmproduzent und eine irrwitzige Geschichte









Heidi in den Niederlanden und an den Dokkumer Nije Silen

            Wer in Engwierum auf der alten Brücke steht, 1729 gebaut, die die Lauwerszee von der Dokkumergrootdiep trennt, schaut in zwei Landschaften: atmet im Sommer den herben Duft der Wiesen und den Wind vom Wattenmeer. Mit Fisch in der Luft. Durch zwei der drei Schleusenkammern wurden die Schiffe gehoben, durch eine Wasser aus dem Hinterland in die See gespült. 1969 trennte eine große Schleuse die Lauwerszee von der Nordsee. Die Waddenzee gehört inzwischen zum Weltkulturerbe. Neben der alten Brücke, die in den letzten Jahren wieder hergerichtet wurde, gibt es eine neue Schleuse. Wer will, kann vom Nordmeer über die Lauwerszee an Engwierum,  Ie und Eastrum vorbei nach Dokkum segeln oder tuckern. Vorbei an Anglern und einer alten Ziegelei.
            Heute sieht es an der alten Schleuse noch fast immer so aus wie früher: Die kleinen Werften arbeiten wieder; das Gebäude der Hafenmeisterei steht noch; aus der Seilerei ist ein Kunstcafé geworden; aber früher war da ein anderes Leben, das der Einheimischen und nicht jenes der vorbeifahrenden Touristen. Da wurden noch die Kähne in den Dörfern mit Torf und Getreide beladen und fuhren mit der Ernte der Bauern tagelang bis nach Leeuwarden. Wieder kamen die Fährleute mit Waren aus der Stadt und auch mit dem kostbaren Genever. Oude Genever und jonge. Heute gibt es Genever Cocktails. Aber heute hat in den meisten Dörfern auch der allerletzte Laden geschlossen, keine Kneipen mehr, keine Bankfiliale, ein Briefkasten alle zwei Dörfer. Dafür gibt es an der Lauwerszee eine Kunststadt und vier Strände, einen Campingplatz, Imbissbuden im Sommer – und ein großes, sehr schönes Naturschutzgebiet.
            Die Bücher der Johanna Spyri werden ab August mit Bruno Ganz als Alpöhi neu verfilmt. Heidi ist die berühmteste Schweizerin und hat es im Gegensatz zu vielen Schweizern schon als Mädchen aus der Eidgenossenschaft herausgeschafft. Bis nach Frankfurt. Das ist bekannt, weniger bekannt ist, dass die erwachsene Heidi auch die Niederlande besucht hat. Sie war sogar in Fryslân. Aber das weiß außer mir fast niemand. Nur noch eine Schweizer Autorin – S. Ciarloni, die in Fryslân über die Farben der Schweiz diskutierte.
Lange Zeiten war es ja eine Sache des Mutes und Glücks aus der Schweiz herauszukommen. Mit den Schiffen hat es nicht geklappt und früher waren Fußreisen für die meisten die einzige Möglichkeit um sich fortzubewegen. Dabei war die Hauptgefahr das schlechte Wetter, also das man den Weg, der aus der Schweiz herausführen könnte, nicht mehr erkannte und sich dann zwischen den Felsen und Schiefern verloren fühlte. Helfen konnte da nur das laute Singen aller Lieder, die man kannte, um wach zu bleiben und so doch noch die Chance zu wahren aus der Schweiz herauszukommen, ohne sich dem Gefühl der Einsamkeit zwischen all den Bergen hinzugeben und jede Idee von einem Leben anderswo sein zu lassen.
Es war Heidi, die als eine Pionierin des Fußmarsches und Alpentourismus, es wagte, die heimischen Berge zu verlassen, hinab zu gehen in die Täler, wieder hinauf zu steigen und endlich bei Schaffhausen und dem Wasserfall die Lücke zu entdecken, die ihr zeigte, wo es nach Norden ging, dem Rhein entlang, dem Rhein folgend, vorbei an den Schwarzwälderkirschtorten und dem Straßburger Münster, vorbei an Sauerkraut, Blut- und Leberwürsten, vorbei -  diesmal auch an Frankfurt, vorbei.
Heidi schritt aus, bis sie in dem Königreich der Niederlanden ankam. Und sie blieb nicht in den südlichen Provinzen, sie schaffte es bis nach Amsterdam und ließ sich dort nicht vom ungewohnten Duft der Coffee Shops verführen: Heidi folgte dem Klang der Glocken der Seefahrerkirche, dicht am Hafen. Da stand sie mit ihrem offenen Mund, den sie auch in all ihren Filmen trug und sie wusste, es würde noch viele, sehr viele Filme geben über ihren Fußmarsch hinaus aus der Schweiz bis in das Rotlichtviertel von Amsterdam. Heidi – die Schweizerin mit dem offenen staunenden Mund: Heidi strahlte.
Es dauerte nicht lange, da blieb ein Filmproduzent stehen und schaute an Heidi hoch. Man muss wissen, dass Heidi sehr groß gewachsen war, fast zwei Meter. Der Produzent bot ihr eine Rolle in seinem neuen Streifen „Der Untergang der Titanic vom Ägerisee“ an. Der Produzent wusste nicht, dass Heidi die berühmte Heidi war und Heidi sagte ihm nichts von ihrer Filmkarriere als Mädchen. Aber sie fand, dass sie perfekt in einen Film mit Schiffen, Untergang und Innerschweiz passte. Auch wenn sie nun  in Amsterdam Fuß fassen wollte. Arbeit finden und neue Bekanntschaften. Ein neues außerschweizerisches Leben, vielleicht sogar ein Nicht-schweizerisches, obwohl sie davon keine Vorstellung hatte, wie ein Leben ohne Schweiz sein könnte.
Heidi hatte sich bei der Begegnung mit dem Filmproduzenten in aller Hast eine Art Künstlernamen zugetan. Sie nannte sich Helene, abgeleitet von der Belle Helene, dem Dessert, das man in der Schweiz sogar nach einer gemütlichen Rösti noch serviert: Staldenschoggicreme und halbe, eingemachte Birnen. Sie dachte, dass der Name gut zu ihrer Figur passte. Schokoladenbraunes Haar und eine Figur wie, ja, wie die Frucht. Die Beine waren lang und sehr schlank, aber das Becken. Ja, das Becken machte aus ihr die Belle Helene.
Der Produzent hatte das gesehen. Genau das. Er fuhr mit Heidi zu den Dreharbeiten. Die Abschnitte, die auf dem See spielten wurden zuerst gedreht. Nicht in Ägeri, nein, sie drehten sie nördlich von Amsterdam im Ijsselmeer und auf der Zuidersee, der an Fryslân grenzt. So kam Heidi auch in dieser nördlichen Provinz herum. Und an einem drehfreien Nachmittag fuhr Heidi alias Helene mit dem Auto des Produzenten sogar bis zur Lauwerszee. Auch dort blieb sie inkognito und gab sich nicht als jene Schweizer Heidi zu erkennen, weshalb sie auch kaum sprach, nur einmal als sie im Hafen von Zoutkamp sich Pommes Frites und gebackene Scholle bestellte
Die ersten drei Tage der Dreharbeiten waren sehr anstrengend, denn Heidi fühlte sich nicht wohl auf dem kleinen Schiff, das mehr schaukelte als geradeaus fuhr. Da nicht viel Geld zur Verfügung stand, hatte sich der Produzent und Regisseur entschieden ein kleines Ausflugsboot zu mieten und gedreht wurde bei stürmischer See. Der Eigner war ein Fischer, der umgesattelt hatte und sonst mit seiner Silverwind Touristen herumfuhr. Der Fischer hatte eine Frau, die sonst immer mit dabei war und die Touristen an Bord bewirtete. Aber jetzt durfte sie nicht mit auf die Silverwind.
Das Problem war, dass des Fischers Frau dieser Belle Helene nicht über den Weg traute. Sie fing laut an zu zetern, als sie Heidi sah. Sie lief am Ufer auf und ab und störte die Kameraleute, die Vorbereitungen der Requisiteure. Sie störte aus vollem Herzen. Da nützte auch das Schreien des Regisseurs mit seiner Tüte nicht.
Der  Fischer fand das alles sehr lustig und amüsierte sich köstlich auf seiner Kleinausgabe der Titanic. Er genoss den Wirbel und hatte das Geld gerne genommen. Er genoss auch das Zusammensein mit Heidi alias Belle Helene und als er am dritten Drehtag in einer Pause mit Helene allein auf dem Ausflugsschiff war, überkam ihn die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Er löste die Leinen, ließ den Motor an und nahm volle Fahrt auf Richtung Richtung Zuidersee und Nordsee. Quer über das Ijsselmeer. Mit anderen Worten der Fischer war im Begriff die Belle Helene, also Heidi, in ein nichtschweizerisches Leben zu entführen. Nun war es an Heid eine Entscheidung zu treffen, wollte sie mit diesem ihr fremden Mann, in dessen Sprache sie nur das Hoj und die röchelnden Bruchlaute CH verstand, ein neues Leben beginnen? Wollte sie in einem Land leben, in dem die Linie des Himmels tiefer lag als die Wiesen und das Land unter dem Meeresspiegel? Und vor allem: Wo es keine Alpen gab und nicht eine einzige Alphütte; und auch keine duftenden Schokoladenbrocken.
Heidi überwältigte den Fischer mit einem Kuss, drängte ihn an die Reling und warf ihn über Bord. Dann wendete sie das Boot und lenkte es zurück in den Hafen von Amsterdam, in die Gracht vor der Central Station und bestieg einen Zug zum Flughafen. Sie flog zurück in ihre Schweiz und war glücklich, als sie die ersten Bergketten unter sich sah.
So ist das also mit mir, dachte Heidi alias Belle Helene: Ich kann durch halb Europa laufen und verliere nicht den Mut, ich kann Zug fahren und fliegen, aber die Berge verlassen, das will ich nicht. Ich werde niemals ein Schiff besteigen und in Halifax an Land gehen. Das werde ich nicht tun. Und ich werde mit keinem gehen, der nicht die Farben der Schweiz lernt. So kehrte Heidi klüger und mit mehr Fragen denn je in ihrem Herzen zurück aus den Niederlanden.
Und der Film?
Wurde dann nicht gedreht. Weil der Kanton Zug kein Geld für so Seich hatte und es die in den Niederlanden nicht einsahen, was ein Boot namens Titanic auf dem Ägerisee mit ihrer glorreichen Vergangenheit als Seefahrer zu tun hatte. Man fragte sich unter Königen, Prinzessinnen wie auch unter Fernsehmachern gleichermaßen, ob da einer die Niederlande fälschlicherweise als Eroberer der Schweiz darstellen wolle. Wer sollte denn heutzutage so etwas unterstützen? Wo war die politische Korrektheit zu finden? Da verlumpte der Produzent. Ihm und dem Fischer  blieben einzig der Traum. La Belle Helene. Sie aber blieb verschwunden. Weil sie ja Heidi war. Und nach ihrem niederländischen Abenteuer war sie beschäftigt mit der geplanten Neuverfilmung. Sie musste eine neue kleine Heidi finden.

© J. Monika Walther
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