Heidi in den
Niederlanden und an den Dokkumer Nije Silen
Wer in
Engwierum auf der alten Brücke steht, 1729 gebaut, die die Lauwerszee von der
Dokkumergrootdiep trennt, schaut in zwei Landschaften: atmet im Sommer den
herben Duft der Wiesen und den Wind vom Wattenmeer. Mit Fisch in der Luft.
Durch zwei der drei Schleusenkammern wurden die Schiffe gehoben, durch eine
Wasser aus dem Hinterland in die See gespült. 1969 trennte eine große Schleuse
die Lauwerszee von der Nordsee. Die Waddenzee gehört inzwischen zum
Weltkulturerbe. Neben der alten Brücke, die in den letzten Jahren wieder
hergerichtet wurde, gibt es eine neue Schleuse. Wer will, kann vom Nordmeer
über die Lauwerszee an Engwierum, Ie und
Eastrum vorbei nach Dokkum segeln oder tuckern. Vorbei an Anglern und einer
alten Ziegelei.
Heute sieht
es an der alten Schleuse noch fast immer so aus wie früher: Die kleinen Werften
arbeiten wieder; das Gebäude der Hafenmeisterei steht noch; aus der Seilerei
ist ein Kunstcafé geworden; aber früher war da ein anderes Leben, das der
Einheimischen und nicht jenes der vorbeifahrenden Touristen. Da wurden noch die
Kähne in den Dörfern mit Torf und Getreide beladen und fuhren mit der Ernte der
Bauern tagelang bis nach Leeuwarden. Wieder kamen die Fährleute mit Waren aus
der Stadt und auch mit dem kostbaren Genever. Oude Genever und jonge. Heute
gibt es Genever Cocktails. Aber heute hat in den meisten Dörfern auch der
allerletzte Laden geschlossen, keine Kneipen mehr, keine Bankfiliale, ein
Briefkasten alle zwei Dörfer. Dafür gibt es an der Lauwerszee eine Kunststadt
und vier Strände, einen Campingplatz, Imbissbuden im Sommer – und ein großes,
sehr schönes Naturschutzgebiet.
Die Bücher
der Johanna Spyri werden ab August mit Bruno Ganz als Alpöhi neu verfilmt.
Heidi ist die berühmteste Schweizerin und hat es im Gegensatz zu vielen
Schweizern schon als Mädchen aus der Eidgenossenschaft herausgeschafft. Bis
nach Frankfurt. Das ist bekannt, weniger bekannt ist, dass die erwachsene Heidi
auch die Niederlande besucht hat. Sie war sogar in Fryslân. Aber das weiß außer
mir fast niemand. Nur noch eine Schweizer Autorin – S. Ciarloni, die in Fryslân
über die Farben der Schweiz diskutierte.
Lange Zeiten war es ja eine Sache
des Mutes und Glücks aus der Schweiz herauszukommen. Mit den Schiffen hat es
nicht geklappt und früher waren Fußreisen für die meisten die einzige
Möglichkeit um sich fortzubewegen. Dabei war die Hauptgefahr das schlechte
Wetter, also das man den Weg, der aus der Schweiz herausführen könnte, nicht mehr
erkannte und sich dann zwischen den Felsen und Schiefern verloren fühlte.
Helfen konnte da nur das laute Singen aller Lieder, die man kannte, um wach zu bleiben
und so doch noch die Chance zu wahren aus der Schweiz herauszukommen, ohne sich
dem Gefühl der Einsamkeit zwischen all den Bergen hinzugeben und jede Idee von
einem Leben anderswo sein zu lassen.
Es war Heidi, die als eine
Pionierin des Fußmarsches und Alpentourismus, es wagte, die heimischen Berge zu
verlassen, hinab zu gehen in die Täler, wieder hinauf zu steigen und endlich
bei Schaffhausen und dem Wasserfall die Lücke zu entdecken, die ihr zeigte, wo
es nach Norden ging, dem Rhein entlang, dem Rhein folgend, vorbei an den
Schwarzwälderkirschtorten und dem Straßburger Münster, vorbei an Sauerkraut,
Blut- und Leberwürsten, vorbei - diesmal
auch an Frankfurt, vorbei.
Heidi schritt aus, bis sie in dem
Königreich der Niederlanden ankam. Und sie blieb nicht in den südlichen
Provinzen, sie schaffte es bis nach Amsterdam und ließ sich dort nicht vom
ungewohnten Duft der Coffee Shops verführen: Heidi folgte dem Klang der Glocken
der Seefahrerkirche, dicht am Hafen. Da stand sie mit ihrem offenen Mund, den
sie auch in all ihren Filmen trug und sie wusste, es würde noch viele, sehr
viele Filme geben über ihren Fußmarsch hinaus aus der Schweiz bis in das
Rotlichtviertel von Amsterdam. Heidi – die Schweizerin mit dem offenen
staunenden Mund: Heidi strahlte.
Es dauerte nicht lange, da blieb
ein Filmproduzent stehen und schaute an Heidi hoch. Man muss wissen, dass Heidi
sehr groß gewachsen war, fast zwei Meter. Der Produzent bot ihr eine Rolle in
seinem neuen Streifen „Der Untergang der Titanic vom Ägerisee“ an. Der
Produzent wusste nicht, dass Heidi die berühmte Heidi war und Heidi sagte ihm
nichts von ihrer Filmkarriere als Mädchen. Aber sie fand, dass sie perfekt in
einen Film mit Schiffen, Untergang und Innerschweiz passte. Auch wenn sie nun in Amsterdam Fuß fassen wollte. Arbeit finden
und neue Bekanntschaften. Ein neues außerschweizerisches Leben, vielleicht
sogar ein Nicht-schweizerisches, obwohl sie davon keine Vorstellung hatte, wie
ein Leben ohne Schweiz sein könnte.
Heidi hatte sich bei der
Begegnung mit dem Filmproduzenten in aller Hast eine Art Künstlernamen zugetan.
Sie nannte sich Helene, abgeleitet von der Belle Helene, dem Dessert, das man
in der Schweiz sogar nach einer gemütlichen Rösti noch serviert: Staldenschoggicreme
und halbe, eingemachte Birnen. Sie dachte, dass der Name gut zu ihrer Figur
passte. Schokoladenbraunes Haar und eine Figur wie, ja, wie die Frucht. Die
Beine waren lang und sehr schlank, aber das Becken. Ja, das Becken machte aus
ihr die Belle Helene.
Der Produzent hatte das gesehen.
Genau das. Er fuhr mit Heidi zu den Dreharbeiten. Die Abschnitte, die auf dem
See spielten wurden zuerst gedreht. Nicht in Ägeri, nein, sie drehten sie
nördlich von Amsterdam im Ijsselmeer
und auf der Zuidersee, der an Fryslân grenzt. So kam Heidi auch in dieser
nördlichen Provinz herum. Und an einem drehfreien Nachmittag fuhr Heidi alias
Helene mit dem Auto des Produzenten sogar bis zur Lauwerszee. Auch dort blieb
sie inkognito und gab sich nicht als jene Schweizer Heidi zu erkennen, weshalb
sie auch kaum sprach, nur einmal als sie im Hafen von Zoutkamp sich Pommes
Frites und gebackene Scholle bestellte
Die ersten drei Tage der
Dreharbeiten waren sehr anstrengend, denn Heidi fühlte sich nicht wohl auf dem
kleinen Schiff, das mehr schaukelte als geradeaus fuhr. Da nicht viel Geld zur
Verfügung stand, hatte sich der Produzent und Regisseur entschieden ein kleines
Ausflugsboot zu mieten und gedreht wurde bei stürmischer See. Der Eigner war
ein Fischer, der umgesattelt hatte und sonst mit seiner Silverwind Touristen
herumfuhr. Der Fischer hatte eine Frau, die sonst immer mit dabei war und die
Touristen an Bord bewirtete. Aber jetzt durfte sie nicht mit auf die
Silverwind.
Das Problem war, dass des
Fischers Frau dieser Belle Helene nicht über den Weg traute. Sie fing laut an
zu zetern, als sie Heidi sah. Sie lief am Ufer auf und ab und störte die
Kameraleute, die Vorbereitungen der Requisiteure. Sie störte aus vollem Herzen.
Da nützte auch das Schreien des Regisseurs mit seiner Tüte nicht.
Der Fischer fand das alles sehr lustig und amüsierte
sich köstlich auf seiner Kleinausgabe der Titanic. Er genoss den Wirbel und
hatte das Geld gerne genommen. Er genoss auch das Zusammensein mit Heidi alias
Belle Helene und als er am dritten Drehtag in einer Pause mit Helene allein auf
dem Ausflugsschiff war, überkam ihn die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Er
löste die Leinen, ließ den Motor an und nahm volle Fahrt auf Richtung Richtung
Zuidersee und Nordsee. Quer über das Ijsselmeer. Mit anderen Worten der Fischer
war im Begriff die Belle Helene, also Heidi, in ein nichtschweizerisches Leben
zu entführen. Nun war es an Heid eine Entscheidung zu treffen, wollte sie mit
diesem ihr fremden Mann, in dessen Sprache sie nur das Hoj und die röchelnden
Bruchlaute CH verstand, ein neues Leben beginnen? Wollte sie in einem Land
leben, in dem die Linie des Himmels tiefer lag als die Wiesen und das Land
unter dem Meeresspiegel? Und vor allem: Wo es keine Alpen gab und nicht eine
einzige Alphütte; und auch keine duftenden Schokoladenbrocken.
Heidi überwältigte den Fischer
mit einem Kuss, drängte ihn an die Reling und warf ihn über Bord. Dann wendete sie
das Boot und lenkte es zurück in den Hafen von Amsterdam, in die Gracht vor der
Central Station und bestieg einen Zug zum Flughafen. Sie flog zurück in ihre
Schweiz und war glücklich, als sie die ersten Bergketten unter sich sah.
So ist das also mit mir, dachte
Heidi alias Belle Helene: Ich kann durch halb Europa laufen und verliere nicht
den Mut, ich kann Zug fahren und fliegen, aber die Berge verlassen, das will
ich nicht. Ich werde niemals ein Schiff besteigen und in Halifax an Land gehen.
Das werde ich nicht tun. Und ich werde mit keinem gehen, der nicht die Farben
der Schweiz lernt. So kehrte Heidi klüger und mit mehr Fragen denn je in ihrem
Herzen zurück aus den Niederlanden.
Und der Film?
Wurde dann nicht gedreht. Weil
der Kanton Zug kein Geld für so Seich hatte und es die in den Niederlanden
nicht einsahen, was ein Boot namens Titanic auf dem Ägerisee mit ihrer
glorreichen Vergangenheit als Seefahrer zu tun hatte. Man fragte sich unter
Königen, Prinzessinnen wie auch unter Fernsehmachern gleichermaßen, ob da einer
die Niederlande fälschlicherweise als Eroberer der Schweiz darstellen wolle.
Wer sollte denn heutzutage so etwas unterstützen? Wo war die politische
Korrektheit zu finden? Da verlumpte der Produzent. Ihm und dem Fischer blieben einzig der Traum. La Belle Helene. Sie
aber blieb verschwunden. Weil sie ja Heidi war. Und nach ihrem niederländischen
Abenteuer war sie beschäftigt mit der geplanten Neuverfilmung. Sie musste eine
neue kleine Heidi finden.
© J. Monika Walther
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