Freitag, 11. Oktober 2013

Gefällt dir das Land nicht, such dir ein anderes.






Die zwei Seiten der Medaillen. Wenn ich genug Medaillen, Münzen hätte, wäre es vielleicht egal, welche Zahl auf der einen Seite steht.  Und welche Machtsymbole auf der anderen. Ich könnte alle Seiten und Medaillen verteilen und austauschen nach Lust und Laune. Mit wenigen Münzen und dem Wissen, dass es zu allem und jedem mehrere Blickwinkel gibt, liegt unter den Pflastersteinen nicht nur Sand. Und aus dem Sand lässt sich auch kein Strand schaufeln. Uwe Johnson beginnt Band zwei der „Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ mit dem Satz: „Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt…“
Gefällt dir das Land nicht, such dir ein anderes. Sagten sie in Amerika zu Gesine. Aber so einfach ist das nicht. Gesine kann keine Schiffspassage zurück nach Jerichow buchen, nach Mecklenburg. Nicht einmal das Weggehen aus der Ostzone, der Deutschen Demokratischen Diktatur, war Ende der fünfziger Jahre einfach. Denn weder das Reisen zwischen den Zonen war nach 1945 freizügig und einfach noch das Verlassen der DDR, deren oberste Genossen längst schon Grenzzäune hatten ziehen lassen und diese mit Soldaten absicherten. Volkspolizei.
Fast unmöglich war es, eine Fahrkarte nach Hamburg oder nach Amsterdam zu kaufen, wozu es mehr als eine Genehmigung benötigte. Die Genossen Bürokraten interessierte es nicht, dass dort Verwandte waren: Sollen doch wieder nach Hause kommen. Also aussichtslos. Also wurde schwarz gefahren. Kaum Gepäck. Immer in Bewegung. An den Bahnhöfen nach draußen. Das Kind lief im Zug hin und her. Das war der Auftrag. Immer alles im Blick. So kam ich das erste Mal von Leipzig über Hamburg nach Haarlem. Zu Onkel Jaap und seiner Frau, die nie wieder nach ihrer Flucht 1938 ein Wort Deutsch sprach. Auch nicht mit dem kleinen Mädchen. Immer in Bewegung bleiben. Durch Amsterdam mit dem Onkel gehen. Die Nordsee und den Strand von Zandvoort sehen. Das Ijsselmeer riechen. Auf einem Boot bis nach Lemmer fahren und bis zum Prinses Margriet Kanal. Fryslân. Auf einer Karte viele fremde Namen lesen. Viele fremde Wörter hören. Scheveninger Shepsbeschuit. Mit diesem Wort wurden deutsche Spione enttarnt. Ich lernte es mit meinen acht Jahren voller Hingabe. Mich sollte niemand entdecken. Nicht entdeckt werden war über Jahre eine wichtige Aufgabe in der Familie gewesen, und auch in der roten Diktatur ging es darum, die Gedanken bei sich zu behalten, nicht zu reden. Nicht erwischt zu werden. In Bewegung bleiben.
Fryslân. Seit vierzig Jahren schaue ich dort in den Himmel und kenne die Farben der Jahreszeiten. Und wie sich so vieles verändert. Zwei Seiten der Medaille. Inzwischen gibt es überall in Friesland kleine Erdgasfelder. Überall. Der wunderbare geschützte Naturpark um die Lauwerzee neben unzähligen Erdgasfeldern der Gasunie und Nam. Die Bauernhöfe und kleinen Dörfer und Bauernschaften neben der Kunststadt für Touristen an der Lauwerzee. Die Dörfer ohne Kneipe, Pfarrer, Laden, Postkasten, Tankstelle, daneben für die Touristen Anlegestellen, Restaurants, Parkplätze, Fischbuden, Schnickschnack für ein paar Sommermonate, aufgeschüttete Strände an der Lauwerzee, neue Kanäle. Demnächst kann vom Ijsselmeer nach Berlin per Motoryacht gefahren werden. Das Alte kommt in kleine Museen: So war es früher.
Wenn der Sommer vorbei ist, werden Borgers in Kisten gestapelt, die Zuckerrüben auf die kleinen Parkplätze gekippt; die Fischbuden klappen Wagen und Stühle zusammen, winterfest; viele Restaurants öffnen nur noch am Wochenende, nur die ‚Chinesen’ halten immer durch, denn Bami und Nasi mit Spiegeleiern wird immer und überall von allen gegessen, alle anderen stellen ihre Schilder in den Hinterhof. Wenn Herbst leuchtet die Sonne in warmen Farben, die Wolken türmen sich zu Segelschiffen zwischen denen die Dreiecke der Gänse, Enten und Schwäne fliegen: Gehen wir oder bleiben wir noch ein paar Wochen? Die Äcker zeigen ihr kräftiges Braun, Kohlköpfe und Lauch wachsen noch, die Hortensienbüsche verlieren ihre Farben, aber die Bäume strahlen in der Sonne. Die Landschaft ist voller Beruhigung und Geborgenheit.
Aber es gibt die andere Seite der Medaille: Wenig Arbeit, Unruhe in all den Häusern, die verkauft werden müssen. Die alten Dörfer sind Gerüst, das bis zum nächsten Frühjahr, wenn die Boote und Touristen wieder kommen, halten muss. Unter dem Asphalt im Humaldawei liegen die uralten Basaltsteine und darunter fließt Wasser.


© J. Monika Walther