Dienstag, 6. November 2012

Koolgänse, Aale und das Glück

Koolgänse und Aale


Im Hamburger Hafen sah ich als Kind den ersten lebenden Aal. Tote Krabben, rosafarben und einen sich windenden Aal. Der Fischer nahm den Aal, drehte sich um, ein Ruck und dann bekam ich Krabben und Aal in Zeitungspapier gewickelt, ausgehändigt. Mein Onkel lächelte ernst, sagte: „Wir haben ein Glück.“ – Ja, das hatte er, der nach dem Krieg, aufgetaucht aus einem Lager, eine Buchhalterstelle bei der Reederei Stinnes gefunden hatte, später Chefprokurist wurde, mit Chauffeur und einem großen Büro, von dem aus ich auf die Elbe schauen konnte und über den dicken Teppich ging ich als Kind hin und her, staunend. Und die Tante hatte auch Glück, die im Bunker beim NWDR putzte, auf dem Heiliggeistfeld. Und ich hatte auch Glück, dass ich überhaupt geboren wurde, und dass es überall in der Welt Verwandte gab, nur kaum noch welche in Leipzig und Ostberlin. Aber in Boulogne-sur-Mer. Ein geflüchteter Onkel, er schneidet Haare, in einer kleinen Stube am Hafen. Und er bekommt jeden Tag Muscheln oder ein paar Fische. Er kommt auch nach dem Krieg über die Runden. Und ich lerne bei ihm Muscheln essen, Fische ausnehmen. Ohne großes Getue.






 Glück hatte auch eine aus Nazideutschland geflüchtete Cousine, die  in Verstecken überlebte, einen Niederländer heiratete, nie wieder Deutsch sprach. Jaap, der Fröhliche und Freundliche, der mit mir, dem Kind, durch Haarlem und Amsterdam ging und deutsch radebrechte.  Ende der Fünfziger Jahre. Und mir zeigte, was gefillter Fisch ist und wie die chinesische und indonesische Küche schmeckt.
Glück hatte auch ich,  dass es in all der Fremde und Traurigkeit immer wieder einen Onkel, eine Tante gab, einen entfernten Verwandten, die sich kümmerten und mir Leben zeigten, dem kleinen Mädchen erzählten, wie das Leben der Familie war -  vor 1933 und vor 1939, vor den Fluchten, in Leipzig, Hamburg und anderswo. Glück fühlte ich, als ich mit dreiundzwanzig das erste Mal an der Lauwerzee stand, dem damals viel größeren See und dem damals viel kleineren Hafen, in dem Fischer mit kleinen Kähnen anlegten, ihren Fang vom Boot aus verkauften oder in kleinen Läden ablieferten, danach gingen sie in kleinen Dörfern und Bauernschaften in die vielen kleinen Kneipen und tranken, so viel der Zapfhahn hergab. Ich fühlte Glück unter diesem schiefergrauen Himmel zu stehen, am Strand angeschwemmtes Holz zu sammeln für den Ofen, ein winziges halbes Häuschen zu haben, neben dem Bauernpaar Piet und Ans, einen frischen Aal geschenkt zu bekommen und Schollen. Ich fühlte Glück unter dem zugigen Dach zu schlafen (das war nicht verkleidet, da pfiff der Wind durch) und den ersten wackeligen Schreibtisch zu bauen, da zu sitzen und zu schreiben.






Damals wusste ich wenig über die Geschichte und das Nordmeer. Wie anderswo auch hatte es zwischen 1500 und 1700 immer wieder große Überflutungen des Lauwerszeegebiet gegeben: 1509, 1542, 1650 und 1665. Die Weihnachtsflut des Jahres 1717 war für den Norden der Niederlande katastrophal. Viele Schleusen waren nach der Flut völlig zerstört. Danach wurden über die Jahrhunderte immer mehr Küstengebiete eingedeicht und so wurde die Lauwerzee kleiner und kleiner. Im Herbst 2003 stand der Beschluss, den Nationalpark Lauwerzee einzurichten. Der Versuch ein Gleichgewicht zwischen Meer, Natur, dem Hafenbetrieb und dem Tourismus und Militär herzustellen. Erst verschwanden viele Pflanzen, Fischarten und die Schalentiere als das Land nicht mehr Flut und Ebbe erlebte, 





dann wuchsen neue Blumen wie Orchideen, das Sumpf-Herzblatt. Das Gebiet wurde Heimat für Graugänse, Krickenten, Pfeifenten und Weißwangengänse; Zugvögel und Wintergäste kommen an der Lauwerzee zur Ruhe. Hunderte von Löffelenten und Brandgäsen suchen Nahrung im Winter. Reiher schweben über die Felder, Strandläufer aller Art, Weihen, Kiebitze, hunderte Arten von Wattvögeln sind zu beobachten. Ja, und Flamingos sind im Sommer zu sehen. Sommergäste. Ich habe sie gesehen und – wie Kormorane Aale fangen. Koolgänse heißen sie auf Niederländisch.  Ein kleines Paradies ist aus dem Gebiet Lauwerzee geworden. Und ich fühle immer wieder Glück, wenn ich über das graue Wasser schaue, Sternmöwen und andere nach Nahrung suchen, flattern und schweben, hüpfen und ins Wasser stoßen. Manchmal denke ich zurück an Hamburg und wenn Regine und ich auf den Michel rannten und da oben standen und strahlten.

© Jay Monika Walther